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Mittwoch, 17. September 2025

Bürgergeld zwischen Fürsorge und Verantwortung - böses Erwachen für Protestwähler der AfD

Die Reform des Bürgergeldes im Rahmen des sogenannten „Herbstes der Reformen“ markiert einen tiefgreifenden Wandel im deutschen Sozialstaat. Die CDU/CSU verfolgt dabei eine Linie, die auf mehr Eigenverantwortung und weniger bedingungslose Unterstützung setzt. Diese politische Neuausrichtung ist nicht nur Ausdruck haushaltspolitischer Zwänge, sondern auch ein ideologisches Statement: Der Staat soll nicht länger primär absichern, sondern aktivieren.

Die Abschaffung der sogenannten „Vertrauenszeit“ und die Einführung schärferer Sanktionen für Arbeitsverweigerung sind zentrale Elemente dieser Reform. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, soll künftig mit dem vollständigen Wegfall des Bürgergeldes rechnen müssen. Damit wird ein Paradigmenwechsel vollzogen: Der Sozialstaat wird nicht mehr als bedingungsloser Garant für das Existenzminimum verstanden, sondern als Vertrag auf Gegenseitigkeit. Hilfe wird nur gewährt, wenn der Empfänger sich aktiv um Teilhabe bemüht.

Diese Entwicklung ist nicht ohne Risiko. Sie basiert auf der Annahme, dass viele Bürgergeldempfänger nicht arbeiten wollen, obwohl empirische Studien zeigen, dass die meisten durchaus bereit sind, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Die Reformen setzen auf Druck statt auf Motivation, auf Kontrolle statt auf Vertrauen. Das birgt die Gefahr, dass Menschen mit komplexen Problemlagen – etwa psychischen Erkrankungen, Bildungsdefiziten oder familiären Belastungen – durch das Raster fallen.

Gleichzeitig ist die Forderung nach Eigeninitiative nicht nur legitim, sondern notwendig. Ein Sozialstaat, der ausschließlich auf Fürsorge setzt, läuft Gefahr, Abhängigkeiten zu zementieren. Wer langfristig auf Transferleistungen angewiesen ist, verliert nicht nur ökonomische Sicherheit, sondern oft auch soziale Teilhabe und Selbstwirksamkeit. Deshalb ist es richtig, Eigenverantwortung zu fördern – aber nicht durch Sanktionen allein, sondern durch gezielte Unterstützung, Bildung, Beratung und Perspektiven.

Die politische Debatte um das Bürgergeld ist damit ein Spiegelbild eines tieferliegenden Konflikts: Wie viel Verantwortung darf der Staat dem Einzelnen zumuten, und wie viel Schutz muss er garantieren? Die CDU/CSU setzt auf ein Modell, das Leistung belohnt und Passivität bestraft. Doch ein gerechter Sozialstaat muss mehr sein als ein Kontrollinstrument. Er muss befähigen, nicht nur fordern. Er muss Vertrauen schenken, nicht nur misstrauen. Und er muss die Vielfalt menschlicher Lebenslagen anerkennen, statt sie in ein starres Regelwerk zu pressen.

Die Reformen des Herbstes sind ein Weckruf – für die Politik, die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Sie fordern mehr Eigeninitiative, aber sie dürfen nicht vergessen, dass echte Teilhabe nur dort entsteht, wo Menschen nicht nur gefordert, sondern auch gefördert werden.

Die Gefahr, dass Bürgergeldempfänger und Bezieher von Grundsicherung in größerer Zahl zur AfD abwandern, ist real.

Laut aktuellen Analysen und Wahlergebnissen, etwa bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, zeigt sich eine deutliche Tendenz: Die AfD gewinnt zunehmend in klassischen Arbeiterregionen und bei Menschen, die sich sozial abgehängt fühlen. Politikwissenschaftler wie Werner J. Patzelt sprechen davon, dass die AfD sich zur „Partei der kleinen Leute“ entwickelt – also jener, die früher SPD oder teils auch die Linke gewählt haben.

Interessanterweise sind es nicht unbedingt die Bürgergeldempfänger selbst, sondern oft jene, die knapp über der Bedürftigkeitsgrenze leben – Menschen mit niedrigem Einkommen, kleinen Selbstständigen, Facharbeitern – die sich durch das Bürgergeld benachteiligt fühlen. Das Narrativ „Ich arbeite hart, andere bekommen Geld fürs Nichtstun“ ist ein emotionaler Treiber, den die AfD gezielt bedient. Die Empörung über vermeintliche Ungerechtigkeit, etwa bei der Migration in die Sozialsysteme, wird dabei politisch instrumentalisiert.

Gleichzeitig ist die AfD in ihrem eigenen Programm extrem restriktiv gegenüber Sozialleistungen: Sie fordert unter anderem gemeinnützige Zwangsarbeit für Bürgergeldempfänger nach sechs Monaten und will den Anspruch für Nicht-Deutsche erst nach zehn Jahren sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gewähren. Das bedeutet: Wer Bürgergeld bezieht, würde unter einer AfD-Regierung deutlich schlechter gestellt – was viele Wähler möglicherweise nicht vollständig überblicken.

Die eigentliche Gefahr liegt also weniger darin, dass „alle“ Bürgergeldinteressenten die AfD wählen, sondern dass sich ein wachsendes Gefühl von Ungerechtigkeit und politischer Entfremdung in den unteren sozialen Schichten breitmacht. Wenn etablierte Parteien keine glaubwürdige Antwort auf diese Sorgen liefern – etwa durch gerechte Reformen, bessere Kommunikation und echte Teilhabechancen – entsteht ein Vakuum, das die AfD füllt.

Es ist ein Weckruf für die demokratischen Parteien: Wer den Sozialstaat umbaut, muss ihn auch erklären. Wer Eigenverantwortung fordert, muss auch Perspektiven bieten. Sonst droht eine politische Polarisierung, in der die AfD nicht nur Protestpartei bleibt, sondern zur dauerhaften Kraft in den sozialen Brennpunkten wird.


Samstag, 20. August 2011

Diskussion - Armut in Deutschland: Wie steht es mit unserem Armutsbekämpfungsprogramm?

(vdk) Die Armutsbekämpfung muss ganz oben auf die politische Agenda meint auch der Sozialverband VdK anlässlich einer aktuell veröffentlichten Analyse der Vereinten Nationen über die soziale Lage in Deutschland. „Die UN bestätigt die Position des Sozialverbands VdK, dass die Bundesregierung endlich ein umfassendes Armutsbekämpfungsprogramm auf den Weg bringen muss.“ Ein erster Schritt wäre die Einsetzung von Armutsbeauftragten auf Bundes- und Landesebene, um Maßnahmen der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Bildungspolitik hinsichtlich der Armutsbekämpfung zu koordinieren.

Die UN-Analyse bezieht sich auf Zahlen aus dem Jahr 2008. Als „besonders erschreckend" bezeichnete es deshalb VdK-Präsidentin Ulrike Mascher, dass sich im Bereich Kinderarmut seither „kaum etwas bewegt hat". Die Teilhabe armer Kinder habe sich kaum verbessert. „Das Bildungspaket der Bundesregierung läuft weitgehend ins Leere“, konstatierte Mascher, „viel effektiver wäre es, diese Mittel dort einzusetzen, wo Kinder Tag für Tag betreut werden: in Schulen, Kitas und Kindergärten, beispielsweise für Mittagessen, Musikunterricht und Nachhilfe.“ Hier ließe sich ein diskriminierungsfreier Umgang auch viel besser realisieren, durch den Gang zum Amt fühlten sich viele arme Familien stigmatisiert.

Die hohe Zahl der so genannten „Aufstocker“ – der UN-Bericht geht von 1,3 Millionen Menschen aus, deren Einkommen trotz Arbeit nicht ausreicht – bezeichnete Mascher als „Zeichen einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik, die zu stark auf Niedriglöhne und Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit setzt“. Sie wies in diesem Zusammenhang auf die Gefahr wachsender Altersarmut hin: „Wer trotz Arbeit heute Hartz IV beziehen muss, wird von seiner Rente nicht leben können.“ Schon jetzt ist festzustellen, dass die Zahl der Grundsicherungsempfänger im Alter deutlich wächst: Zwischen 2003 und 2009 war ein Anstieg um 55 Prozent zu verzeichnen. „Diese Entwicklung verläuft parallel zum zunehmenden Wertverlust der Renten“, erläuterte Mascher. Die Rentnerinnen und Rentner würden seit Jahren durch die Rentenkürzungsfaktoren von der allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt, vom derzeitigen Aufschwung profitieren sie ebenfalls nicht: „Die diesjährige niedrige Rentenerhöhung von 0,99 Prozent wird von der Inflation von 2,3 Prozent mehr als eingeholt.“ Mascher warnte: „Die Kluft zwischen Arm und Reich darf nicht noch weiter wachsen. Das gefährdet den sozialen Frieden.“

(SV)