(SV)
Ein Gastbeitrag von Bürgerreporterin Marita Gerwin (Arnsberg)
Anna ist 83 Jahre alt. Fest verwurzelt in ihrem kleinen Haus, das sie in den 60er-Jahren mit ihrem Mann zusammen gebaut hat. Selbstbestimmt, mit Willenskraft, Weitblick und Gottvertrauen hat sie ihr Leben gemeistert.
Zwei Kinder, Kati und Peter, hat sie nach einem tragischen Verkehrsunfall ihres Mannes allein großgezogen. Anne und ihre erwachsenen Kinder verstehen sich gut. Vertrauen und Offenheit sind bis heute die Basis ihrer Beziehung. Engagiert in ihrer Gemeinde, beliebt in der gewachsenen Nachbarschaft, gekämpft wie eine Löwin für ihre Kinder - so stand sie ihr Leben lang auf eigenen Beinen. Selbstbestimmt und autonom wollte sie immer sein und bleiben - bis zu ihrem Lebensende! Ihre Kinder, Peter inzwischen 50 Jahre und Kati 53 Jahre alt, beruflich stark eingebunden, wohnen nicht gerade in ihrer Nähe. Ein gute Autostunde entfernt leben beide mit ihren Familien. Manchmal fehlt einfach die Zeit zum Besuch bei Anna, ihrer hochbetagten Mutter. Gott sei Dank gibt es ja das Telefon. Doch letzte Woche klingelte es vergebens. Anna war in ihrer Wohnung unglücklich gestürzt. Sie schaffte es nicht allein zum Telefon zu kommen. Erst drei Stunden später entdeckte die nette Nachbarin ihre missliche Situation und holte Hilfe herbei. Genau das war der Moment, den eigentlich alle vorausgesehen und befürchtet hatten.
Die erwachsenen Kinder und Enkel hatten es geahnt. „Lange wird Mama Anna nicht mehr allein in ihrem Haus leben können. Und zu uns ziehen? Das möchte sie eigentlich auch nicht!“. Kati und Peter machen sich ernsthaft Sorgen. Was soll nur geschehen?
Wenn die Eltern älter und hilfsbedürftiger werden, stürzt dies häufig die Angehörigen in einen tiefen Konflikt und in eine seelische Not. Ereignisse wie Krankheit, Stürze, Pflegebedürftigkeit etc. führen nicht selten zu der schwierigen Frage: „Muss meine Mutter nun in ein Heim? Will sie das überhaupt? Und wenn nicht? Darf ich als Kind das Risiko, dass sie allein Zuhause eingeht, überhaupt zulassen? Kann ich sie von der Notwendigkeit eines Umzuges in ein Seniorenheim überzeugen? Was mache ich, wenn sie es strikt ablehnt?
In solchen Situationen kommen auf die erwachsenen Kinder und ihre hilfsbedürftigen Eltern unzählige Fragen zu. Nicht eine davon ist einfach zu beantworten. Anna ist zwar 83 Jahre alt, aber sie hat sich immer ihre Individualität und Autonomie bewahrt. „Darf ich als Sohn oder Tochter ihr ausgerechnet diese letzte Freiheit nehmen?“ Das ist keine juristische Frage, sondern eine zutiefst menschliche, ethische. Sie rührt an, wühlt auf, verunsichert beide Seiten, die Kinder genauso wie die Eltern selbst.
Eltern, egal wie alt sie sind, sind für die Kinder oftmals ein Leben lang der Inbegriff von seelischer Sicherheit und Zuflucht. Die Eltern zu Hause besuchen, das bedeutet „nach Hause kommen“. Ein Ort, bis unters Dach gefüllt mit Kindheitserinnerungen, verbunden mit dem Gefühl von Heimat. Die meisten Eltern versuchen in diesem Zuhause zu leben, solange es eben geht, auch über den Tod des Partners hinaus. Dies ist eine seelische Tiefe, die oftmals übersehen wird, wenn wir uns fragen, warum die Entscheidung über den Umzug ins Seniorenheim, vor allem das Gespräch im Vorfeld darüber, uns allen so schwer fällt.
“Darf ich über meine Mutter entscheiden, bestimmen?“ So gut begründet die Argumente auch sein mögen, die letzte Entscheidung tragen die Eltern! Es ist der Respekt vor ihrer Selbständigkeit, der im Mittelpunkt jeden Gesprächs sein sollte. „Wir sind ganz zerrissen, wenn unsere Mutter Anna sich von ihrem Zuhause trennen muss, um ins Seniorenheim zu ziehen.“ Kati ist klar, dass dies auch der Zeitpunkt ist, zu der sie auch ihre eigene Kindheit endgültig verlieren wird. Beides geschieht zur gleichen Zeit. Beides bewegt Peter und Kati, erschüttert sie auch, wenn sie sich „vom Kopf her“ mit Mutter Anna gemeinsam diesem schwierigen Thema nähern. Ein Hausnotruf reicht einfach nicht mehr aus. Wie oft hatte Anna in der letzten Zeit vergessen, diesen zu bedienen, wenn sie tatsächlich Unterstützung benötigte. „Nun versteh doch bitte, so kann es doch nicht weitergehen. Ich finde keine Ruhe mehr, wenn ich weiß, dass du allein in diesem Haus lebst. Es ist jetzt mit 83 Jahren an der Zeit, dass du selbst auch an deine Sicherheit denkst!“, so versucht Peter mit höchst vernünftigen Argumenten zu überzeugen.
Auf jeden Fall ist es ein tiefer Einschnitt im Leben der Eltern und der Kinder, solch eine Entscheidung zu fällen. Und weil es so schwerfällt, dieses Tabu-Thema in der Familie anzusprechen, wird es so manches mal viel zu lange vor sich hergeschoben.
Ein Abschied, ein Loslassen von liebgewordenen Gewohnheiten, von der vertrauten Wohnung, von der Nachbarschaft, von vielen Erinnerungen, die nicht selten bis in die Kindheit hineinreichen, ist nicht einfach!
Doch eins ist sicher: Je bewusster sich Eltern und Kinder den oftmals notwendigen und vernünftigen Argumenten stellen, desto eher gelingt es, inneren Frieden mit dieser Entscheidung zu schließen und die Chance für einen guten Neubeginn zu nutzen! Auch für Anna, Peter und Kati! Sie sind heute zufrieden mit ihrer Lösung, die sie gemeinsam getroffen haben. Und das ist gut so!
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