Montag, 8. Juli 2024

BdB Bundesverband der Berufsbetreuer: Detaillierte Auseinandersetzung mit dem "natürlichen Willen einer (betreuten) Person"

Stellungnahme



(BdB) Behandlungen gegen den natürlichen Willen einer betreuten Person außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus - sogenannte ambulante Zwangsbehandlungen - sind zurzeit aus guten Gründen unzulässig.


Zum einen besteht im Fall der Anwendung von Zwang auch immer ein gewisses Verletzungsrisiko. Schon deshalb sollte eine solche Maßnahme ausschließlich in einer Klinik stattfinden, damit jederzeit ohne Verzögerung auf ärztliche Hilfe zurückgegriffen werden kann. Zudem muss mit Komplikationen bzw. Nebenwirkungen gerechnet werden - auch deshalb sollte immer ein Arzt zur Verfügung stehen.
Und schließlich ist eine fachlich versierte Nachbehandlung außerhalb eines Krankenhauses kaum möglich.
Als weiteres ist zu befürchten, dass eine Zwangsbehandlung - auch, wenn sie zunächst nur in wenigen Ausnahmefällen zulässig wäre - nach und nach in immer mehr Fällen als „milderes Mittel“ akzeptiert wird, die erste Ausnahmeregelung also eine Art „Türöffnerfunktion“ hätte und Zwangsbehandlungen am Ende der Entwicklung der Normalfall werden würden.

Generell würde die Einführung leicht durchsetzbarer Zwangsbehandlungen den Entwicklungen in der modernen Psychiatrie entgegenstehen, könnte die Behandlungskultur hin zu simplifizierenden Strategien verändern und die Dynamik der Entwicklung von Alternativen zu Zwangsmaßnahmen konterkarieren.
Zu bedenken sind in diesem Zusammenhang die seit Jahren bekannten strukturellen und personellen Probleme v.a. in stationären Pflegeeinrichtungen. Gerade in einer Zeit zunehmender ökonomischer Einsparungen besteht die große Gefahr, die Möglichkeit des Zwangs nicht zur ultima ratio, sondern als günstige Versorgungsstrategie „schwieriger“ Personengruppen zu nutzen.

Vermutlich würde im Übrigen auch die Hemmschwelle sowohl für die für die Beantragung als auch für die gerichtliche Genehmigung einer Zwangsbehandlung abnehmen, da z.B. eine ohne die Anwendung körperlicher Gewalt in Zusammenhang mit einer Zuführung in der gewohnten Umgebung des Betroffenen vorgenommene Behandlung als nicht so starker Eingriff empfunden wird wie eine mit einem mit Gewalt erzwungenen Ortswechsel verbundene Behandlung. In der Folge würden möglicherweise auch die Bemühungen nachlassen, Alternativen zu solchen Behandlungen gegen den natürlichen Willen eines Menschen zu finden.

Der Verband ist der Ansicht, dass grundsätzlich ein Richtungswandel beim Umgang mit Zwang stattfinden muss und es keine Option ist, stattdessen neuere „mildere“ Formen von Zwang zu etablieren. Das System muss in allen Teilen praktisch befähigt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung und Behandlung zu vermeiden. 

Zwangsmaßnahmen sind dabei auch im Lichte der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu bewerten, die mit ihrer Ratifizierung im Jahr 2009 Gesetzeskraft in Deutschland erlangt hat und Zwangsmaßnahmen als unvereinbar mit Artikel 14 UN-BRK ansehen. 2015 hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen Behinderungen die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland erstmals überprüft und äußerte sich 3/4 besorgt über die Anwendung von Zwang und unfreiwilliger Behandlung gegenüber Menschen mit psychosozialen Behinderungen sowie den Mangel an verfügbaren Daten über Zwangsunterbringungen und -behandlungen und empfiehlt, mögliche Menschenrechtsverletzungen in der psychiatrischen Versorgung und in der Altenpflege zu untersuchen (vgl. Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015).
Und schließlich sind Betreuer*innen möglicherweise selbst in derartigen Situationen überfordert, da Ihnen die notwendige Fachkenntnis fehlt, um sich ein eigenes Urteil über die Notwendigkeit einer  Behandlung gegen den natürlichen Willen eines Klienten bzw. einer Klientin und mögliche Alternativen zu bilden. Das dürfte zumindest auf die Mehrzahl der ehrenamtlichen Betreuer*innen und zu einem Teil auch auf Berufsbetreuer*innen zutreffen. Zwar gibt es seit dem 1.1.2023 gem. § 23 Abs 1 Nr. 2 und Abs. 3 BtOG i.V.m. § 3 BtRegV verbindliche Vorgaben für ein von Betreuern und Betreuerinnen nachzuweisendes Grundwissen, es ist aber zweifelhaft, ob dieses ausreicht, um in entsprechenden Fällen eine fundierte eigene Meinung bilden zu können. Das Vormünder- und
Betreuervergütungsgesetz sieht zudem ausdrücklich keine Ressourcen für zeitintensive Beratungsprozesse vor. Unter den prekären Arbeitsbedingungen beruflich tätiger Betreuer*innen könnte es an dieser Stelle einladend wirken, verfrüht ambulante Zwangsmaßnahmen einzuleiten.

Gleichfalls ist zu befürchten, dass Betreuer*innen sich deshalb leicht zu einer Beantragung und schließlich auch Durchsetzung einer Zwangsbehandlung „überreden“ lassen, weil sie - wie oben dargelegt - die Notwendigkeit nicht ausreichend selbst abschätzen können. Unter den gegenwärtigen Bedingungen dürften Betreuer*innen deshalb in vielen Fällen als zuverlässiges Korrektiv gegenüber Wünschen von Ärzten*innen und evtl. auch Einrichtungen oder Angehörigen ausscheiden.

Wir halten es daher für angebracht, in besonderen Situationen - neben dem eigentlichen Betreuer bzw. der eigentlichen Betreuerin - speziell geschulte Betreuer*innen einzusetzen. Diese sollten so ausgebildet werden, dass sie besondere Kenntnisse in medizinischen Fragen vorweisen können, sie beurteilen können, ob es Alternativen zu der in Aussicht genommenen Behandlung gibt und die zudem in der Gesprächsführung geschult sind, um möglichst doch eine Zustimmung des/der Betroffenen zu der beabsichtigten Maßnahme zu erhalten. Betreuer*innen mit einer solchen Spezialqualifikation („Fachbetreuer*in für Zwangsmaßnahmen“ oder etwas weiter gefasst „Fachbetreuer*in für grundrechtlich relevante Angelegenheiten“) stünden bei sensiblen Entscheidungen über Eingriffe in die Freiheitsrechte den betroffenen Menschen zur Seite.

Entscheidungen über derartige Behandlungen sollten künftig nur solchen Fachbetreuer*innen unter der Voraussetzung einer richterlichen Genehmigung vorbehalten sein. Mit den genannten Maßnahmen würden deutliche Impulse zur grundlegenden Fortentwicklung der psychiatrischen Versorgung gesetzt werden, Zwang im Zusammenhang mit Unterbringung und Behandlung könnte deutlich verringert werden und für betroffene Personen würde dies eine Stärkung der selbstbestimmten Entscheidung durch geeignete Unterstützung bedeuten.

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