Deutschland steht an einem arbeits- und sozialpolitischen Wendepunkt. Der demografische Wandel, der anhaltende Fachkräftemangel und der steigende Wettbewerbsdruck treffen auf eine Arbeitsgesellschaft, die über Jahrzehnte auf Stabilität, Verlässlichkeit und planbare Lebensläufe gebaut war. Die nun vom Wirtschaftsministerium vorgeschlagenen Reformen reagieren auf diese Lage mit einer scheinbar einfachen Antwort: längere Arbeitszeiten, spätere Renteneintritte, flexiblere Kündigungsmöglichkeiten.
Dahinter steht die Annahme, dass wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit vor allem über eine Ausweitung der Arbeitsmenge, Ausbeutung der Gesundheit, Gehorsam oder schneller Arbeitsplatzverlust zu erreichen sei.
Diese Logik greift jedoch zu kurz. Sie behandelt Arbeit primär als quantifizierbare Größe und verkennt, dass Arbeitskraft keine unbegrenzte Ressource ist. Wer in einer alternden Gesellschaft allein auf Mehrarbeit setzt, riskiert nicht nur gesundheitliche Überlastung und steigende Ausfallzeiten, sondern auch eine schleichende Erosion sozialer Akzeptanz. Bereits heute verlassen viele qualifizierte Beschäftigte den Arbeitsmarkt nicht aus mangelnder Motivation, sondern weil Arbeitsbedingungen, Taktung und fehlende Übergangsmodelle ein längeres Verbleiben faktisch unmöglich machen.
Vor diesem Hintergrund schlägt dieses Memorandum einen Perspektivwechsel vor: weg von der Maximierung individueller Arbeitszeit, hin zu einem Mehrbeschäftigungsmodell, das die Erwerbsbeteiligung über den gesamten Lebensverlauf verbreitert und stabilisiert. Ziel ist nicht, Menschen länger arbeiten zu lassen, sondern ihnen zu ermöglichen, länger arbeitsfähig zu bleiben.
Kern dieses Ansatzes ist ein gestaffelter, freiwilliger Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. An die Stelle eines abrupten Ausscheidens tritt ein gleitendes Modell, das Teilzeit, Teilrente und Weiterbeschäftigung sinnvoll miteinander verbindet. Beschäftigte sollen früher als bisher die Möglichkeit erhalten, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, ohne vollständig aus dem System auszuscheiden oder dauerhaft Abschläge in Kauf nehmen zu müssen. Damit wird Entlastung nicht sanktioniert, sondern als Voraussetzung für längere Erwerbsbindung verstanden. Gerade ältere Beschäftigte bleiben so dem Arbeitsmarkt erhalten – nicht als überlastete Vollzeitkräfte, sondern als erfahrene Fachkräfte, Mentoren und Wissensträger.
Ein solches Modell setzt voraus, dass Arbeitszeit insgesamt stärker als lebensphasenabhängige Größe gedacht wird. Erwerbsbiografien verlaufen nicht linear: Phasen hoher Belastung, familiärer Verantwortung, Weiterbildung oder gesundheitlicher Einschränkung wechseln sich ab. Ein Arbeitsmarkt, der diese Realität ignoriert, produziert Frühverrentung, Teilzeitfallen und verdeckte Erwerbslosigkeit. Ein Arbeitsmarkt hingegen, der flexible Reduktion und spätere Aufstockung ermöglicht, bindet Arbeitskraft dauerhaft und stabil.
Ökonomisch ist dieser Ansatz keineswegs ein Rückzug aus der Leistungsfähigkeit, sondern im Gegenteil eine Investition in Produktivität. Zahlreiche Erfahrungen zeigen, dass Arbeitsleistung pro Stunde sinkt, wenn Arbeitszeiten verlängert und Arbeitsbedingungen verdichtet werden. Erschöpfung, Krankmeldungen und innere Kündigung sind die Folge. Ein Mehrbeschäftigungsmodell setzt dagegen auf Qualität statt Quantität: auf produktive, gesunde und motivierte Beschäftigte, deren Leistung nicht durch Dauer, sondern durch Passung bestimmt wird.
Auch sozialpolitisch bietet dieser Ansatz klare Vorteile. Während eine reine Mehrarbeitsstrategie vor allem jene begünstigt, die gesund, hochqualifiziert und wenig belastet sind, trägt ein Wahlmodell den unterschiedlichen Lebensrealitäten Rechnung. Pflegearbeit, körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten und psychische Belastungen werden nicht als individuelles Versagen behandelt, sondern als strukturelle Faktoren anerkannt. Wahlfreiheit wird damit nicht zum Privileg, sondern zum Ordnungsprinzip.
Für Unternehmen bedeutet dieses Modell eine veränderte, aber nicht eingeschränkte Flexibilität. Anpassungsfähigkeit entsteht nicht primär durch erleichterte Entlassung, sondern durch Mobilität innerhalb des Systems: durch Qualifizierung, durch altersgerechte Umgestaltung von Tätigkeiten und durch verlässliche Übergänge. Kündigungsschutz bleibt dabei ein zentrales Stabilitätselement, wird jedoch ergänzt durch aktive Instrumente, die Strukturwandel begleiten, statt ihn sozial abzufedern, nachdem er Schaden angerichtet hat.
Langfristig eröffnet ein Mehrbeschäftigungs- und Wahlrentenmodell einen stabileren Finanzierungspfad für die sozialen Sicherungssysteme. Eine breitere Erwerbsbeteiligung, geringere krankheitsbedingte Ausfälle und ein späterer vollständiger Renteneintritt entlasten die Rentenkassen nachhaltiger als eine pauschale Anhebung des Rentenalters. Entscheidend ist dabei die Freiwilligkeit: Wer selbst über Tempo und Ausstieg entscheidet, bleibt länger – nicht trotz, sondern wegen der Entlastung.
Die entscheidende Frage der kommenden Jahre lautet daher nicht, wie viele Stunden eine Gesellschaft insgesamt arbeitet, sondern wie klug sie ihre Arbeitskraft organisiert. Eine Politik, die allein auf Verlängerung setzt, riskiert soziale Erschöpfung und politischen Widerstand. Eine Politik, die auf Mehrbeschäftigung, Übergänge und Wahlfreiheit setzt, stärkt dagegen Resilienz, Produktivität und Vertrauen.
Dieses Memorandum plädiert daher für einen arbeits- und rentenpolitischen Paradigmenwechsel: weg von der Logik des „länger arbeiten müssen“, hin zu einer Ordnung, die es mehr Menschen ermöglicht, länger sinnvoll, gesund und freiwillig Teil des Erwerbslebens zu bleiben.
Auch hinsichtlich unseres hoffentlich noch planbaren Familienlebens, Nachwuchsbereitstellung und angesteuerter Vollbeschäftigung ist Zwang zur individuellen Mehrarbeit das schlechtere Modell. Es hat zu wenig Verästelungen mit unserer Bedürfniswelt und dem Arbeitskräfteangebot in Deutschland.
Quellen
Songül Tolan (DIW Berlin): Die Flexibilisierung des Rentenübergangs in Deutschland, 2015, Berlin (DIW Berlin).
Kurzsummary: Analyse der bestehenden Instrumente zum gleitenden Rentenübergang in Deutschland. Der Beitrag zeigt, dass flexible Übergänge arbeitsmarktpolitisch sinnvoll sind, in der Praxis aber durch komplexe Regelungen und geringe Anreize begrenzt bleiben.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): Flexible Übergänge in den Ruhestand: Verbreitung und Ausgestaltung von Altersteilzeit und Zeitwertkonten, 2025, Nürnberg (IAB-Forschungsbericht).
Kurzsummary: Empirische Untersuchung zur Nutzung flexibler Altersübergänge. Zentrales Ergebnis: Altersteilzeit und Zeitwertkonten stabilisieren Erwerbsverläufe, sind aber sozial und betrieblich ungleich verteilt.
Florian Blank / Wolfram Brehmer / Elke Ahlers (WSI, Hans-Böckler-Stiftung):
Wege in den Ruhestand: Angebot und Nutzung von Altersteilzeit und weiteren Instrumenten des Altersübergangs, 2025, Düsseldorf (WSI-Report).
Kurzsummary: Untersuchung betrieblicher Übergangsmodelle in den Ruhestand. Der Report zeigt, dass freiwillige, gestaffelte Übergänge sowohl Beschäftigung als auch Wissenstransfer fördern, bislang aber zu selten systematisch genutzt werden.
Martin Gasche / Carla Krolage: Gleitender Übergang in den Ruhestand durch Flexibilisierung der Teilrente, 2012, Berlin (Sozialer Fortschritt, Heft 7).
Kurzsummary: Fachaufsatz zur Reform der Teilrente. Argumentiert, dass weniger starre Stufen und transparente Hinzuverdienstregeln die Attraktivität freiwilliger Weiterarbeit deutlich erhöhen würden.
Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Altersteilzeit und Teilrente, 2023, Bonn (bpb, Dossier Rentenpolitik).
Kurzsummary: Überblicksartikel zu rechtlichem Rahmen, Entwicklung und Nutzung von Altersteilzeit und Teilrente in Deutschland. Zeigt die Diskrepanz zwischen politischer Zielsetzung und tatsächlicher Anwendung.
Carol Graham (Brookings Institution / IZA): Late-life work and well-being, 2019, Bonn (IZA World of Labor).
Kurzsummary: Internationale Evidenz zeigt, dass freiwillige Teilzeitarbeit und flexible Rentenübergänge im Alter mit höherer Lebenszufriedenheit, besserer Gesundheit und stabilerer Erwerbsbeteiligung verbunden sind.